Wiederauffindung des Watzendorfer Fragments

Das ›Watzendorfer Fragment‹ war verschollen. Trotz Suche im Archiv der Kirchengemeinde Watzendorf war es hier nicht auffindbar. Pfarrer i.R. R. Axmann hat im Staatsarchiv Coburg nachgeforscht – ohne Ergebnis. Martin von Loeffelholz hat 2012 ein Verzeichnis der vorhandenen Schriften angefertigt – kein ›Watzendorfer Fragment‹ war dabei.
2013 hat die Kirchengemeinde das ehemalige Pfarrhaus in Watzendorf verkauft. Deswegen hat sich der Kirchenvorstand zu einer Umräumaktion entschlossen: Die Stahlschränke mit den Kirchenbüchern und sonstigen Pfarramtsunterlagen einschließlich Archiv sollten in den weiterhin von der Kirchengemeinde genutzten unteren kleinen Raum gebracht werden. Bisher waren die wichtigen Unterlagen im Dachgeschoss in Stahlschränken untergebracht.
Der neue Eigentümer bat darum, auch den Speicher leer zu machen. Hier lagerten noch einige alte Bänke und zwei Schränke mit alten Büchern. Mir war das bekannt. Es handelte sich um eine alte Gemeindebibliothek – vermutlich aus den 50er und 60er Jahren – Bücher, die heute niemand mehr liest.
Am 20. August 2013 am Abend trafen sich die Mitglieder des Kirchenvorstandes. Sie waren voller Energie und Tatenddrang. Zuerst wurden die wichtigen Dokumente aus den Stahlschränken umgezogen. Ich hatte Mühe, die energiegeladenen Leute dazu anzuhalten, dass sie die Bücher und Schriften geordnet von oben nach unten brachten, damit sie gleich wieder richtig eingestellt werden könnten. Das gelang nur zum Teil. Aber am Ende hat dann doch alles wieder seinen Platz gefunden.
Dann ging es natürlich auch an die alte Gemeindebibliothek. Ich habe die Bücher aus den Schränken genommen und sofort entschieden, ob sie weggeschmissen werden oder nicht. Das meiste kam zum Altpapier. Es sollte am nächsten Tag zur Verwertung gebracht werden. In den Schränken fanden sich dann nicht nur Bücher, sondern auch alte Predigtvorbereitungen, Kindergottesdienstmaterialien, Liederbücher des kurze Zeit existierenden Kirchenchores usw. Ich schaute die Sachen kurz an und entschied wieder: weg oder aufheben. Fast alles wurde entsorgt.
Ein dünner, sehr verstaubter Aktendeckel kam mir dabei auch in die Hände. Als ich ihn kurz aufschlug, sah ich ein Kuvert eines Luftpostbriefes. Bei näherem Hinsehen entdeckte ich, dass es eine Korrespondenz zum ›Watzendorfer Fragment‹ war. Ich blätterte kurz durch und tatsächlich waren es mehrere maschinenbeschriebene Bögen und einige leere Blätter. Ich beschloss daher, dass ich mir den Akt mit nach Hause nehme und mal durchsehe, ob sich hier ein Hinweis auf den Verbleib des ›Watzendorfer Fragments‹ findet.
Die Entrümpelungsaktion wurde fortgesetzt. Bücher, Schränke, Papiere usw. wurden am nächsten Tag zum Müllheizkraftwerk gebracht. Der neue Besitzer hatte ein ausgeräumtes Pfarrhaus. Wir hatten altes Gerümpel los.
Ein paar Tage später habe ich mir den alten Aktendeckel vorgenommen. Die Korrespondenz hatte 1962 zwischen Pfarrer Schad und F.W. von Kries, von der University of Washington, Seattle, stattgefunden. Auch ältere Schreiben waren zu finden, eine Übertragung des Textes per Schreibmaschine, und schließlich entdeckte ich noch ein Tütchen mit Negativen. Ich war sehr neugierig, denn ich erhoffte mir wenigstens einen indirekten Blick auf das Originalfragment. Nur der Vollständigkeit halber habe ich dann auch noch die leeren Blätter in die Hand genommen, die mit im Aktendeckel lagen. Und ich staunte nicht schlecht: Zwischen ihnen lagen gut verwahrt die alten Pergamente: das ›Watzendorfer Fragment‹.
Am 26. 8. 2013 habe ich mit Herrn Dr. Klaus Klein, Universität Marburg, Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters, Kontakt aufgenommen. Er äußerte sich hocherfreut über das Wiederfinden des kostbaren Stückes.
Im Januar 2015 hat Herr Dr. Šimek von der Universität Heidelberg das ›Watzendorfer Fragment‹ erfasst und fotografiert, damit es über die Plattform ›Welscher Gast digital‹ der Öffentlichkeit zugänglich ist.
Und fast wäre es im Müll gelandet …
(Ein Bericht von Pfarrer Eckhart Kollmer im Januar 2015)